Diese Worte von Kurt Leonhard könnten als Motto für den Weg von Annemarie zur Malerei stehen. Sie hat sich in einem Alter jenseits der Mitte des Lebens beharrlich und konsequent ihre Akademien und Lehrer selbst gesucht. Es war eine bewußte, ja eine zwingende Entscheidung, denn sie malt, weil sie malen muss. Angesichts des rasanten Fortschritts der neuen Medien, die es heute erlauben, dass virtuelle Welten nahezu gleichberechtigt neben der realen Welt stehen, mag man sich fragen, ob es nicht paradox ist, dass die individuelle Kunstäußerung des Menschen weiterhin für viele Zeitgenossen faszinierend geblieben ist. Vielleicht ist das so, weil die Kunst eines der letzten Refugien des ungezügelten, nicht bis ins letzte berechenbaren, aus den Tiefen seines Wesens heraus schaffenden Menschen ist. Aus dieser Quelle speist sich ganz offensichtlich auch Annemarie Rudolphs Malerei. Ihre Arbeiten sprechen von ihrer engen, ja geradezu symbiotischen Beziehung zu Natur und Kunst. Ausgangspunkt ist immer wieder ein zutiefst sinnenhaftes Naturerleben, das sie auf der Leinwand strukturierend zu ordnen sucht. Erde-Feuer-Wasser-Luft, die vier Elemente in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, sind für die Malerin ein unerschöpfliches Thema. Wie wir wissen, gibt es kaum eine Form oder Farbe, die nicht auch in der Natur zu finden wäre. So liegt auch der Vergleich zwischen Natur und Kunst immer nahe, gleichviel wie künstlich Natur und wie abstrakt Kunst auch sein mag.
Annemarie Rudolph bedient sich in ihrer Malerei der Stilmittel des Informel, das klar umrissene Formen und einen strengen Bildaufbau programmatisch ablehnt. Stattdessen hat der Malprozess, der spontane Ausdruck von psychischer Spannung und emotionaler Befindlichkeit selbst, absolute Priorität – diese Grundprinzipien bestimmen Annemarie Rudolphs Arbeitsweise. Auf Reisen sammelt sie nicht nur Natur- und Landschafts-eindrücke mit der Fotokamera, die die Rolle eines Skizzenbuchs übernimmt,sondern auch Naturmaterialien wie Steine, Hölzer, Moose, Mineralien, Erde, Sand, Pigmente. Mit nahezu wissenschaftlicher Akribie werden die jeweiligen Fundorte sorgfältig gekennzeichnet, bevor alles ins Reisegepäck wandert. Ins Atelier gebracht, dienen diese Funde dann der Erinnerung an Naturerlebnisse und zugleich als Anregung und Gestaltungsmaterial für freie Bildkompositionen.
Werkgruppen wie die Reihe der Islandbilder (2006) oder die Canyon-Serie (2007-2008) zeigen ihr Ringen um adäquaten Ausdruck, ihre intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema oder Motiv. Intuitiv und spielerisch-experimentell nähert sie sich der Bildgestaltung, setzt neben den traditionellen Mitteln der Malerei auch auf Naturmaterialien, schichtet sie aufeinander, trägt sie wieder ab, gräbt Risse und Schrunden in die Schichten. Auch dem „Meister Zufall“ wird ganz bewusst immer wieder Raum gegeben.
Die Serie der Island-Bilder gliedert sich in drei Werkgruppen, in denen die Malerin in freien Formen und mit ihrencharakteristisch erscheinenden Farbklängen die Elemente Erde, Feuer und Wasser (in seinem Aggregatzustand Eis) darzustellen versucht. Da ist der intensive Rot-Grün-Kontrast im Feuer-Zyklus, der an ein magisches Leuchten, ein Aufglimmen von Glutpunkten denken lässt, da sind die wie Rinnsale fließende Linienbündel in Blau und Grün auf Bildern des Eiszyklus. Horizontale oder vertikale, oft gebrochene Linien überziehen den farbig differenzierten Bildhintergrund und wecken im Betrachter unterschiedliche, eigenständige Emotionen und Assoziationen.
In der „Canyonland“ genannten Werkgruppe finden Impressionen einer in den Westen der USA unternommenen Reise ihren Niederschlag und Nachklang. Erdfarben dominieren, eine ganze Skala von Ockertönen entfaltet ihre warme Leuchtkraft, und die Formen besitzen, verglichen mit der Island-Serie, weitaus mehr Stringenz. Auch hier fällt es dem Betrachter nicht schwer,aus dem freien Formen- und Farbenspiel – unabhängig von den Bildtiteln, die die Malerin auch hier ihren Arbeiten gibt – vielfältige individuelle Assoziationen entstehen zu lassen. Gerade dieses Offenhalten der Interpretation ist es, was Kunstkenner zu schätzen wissen. Von besonderem Reiz sind auch Annemarie Rudolphs federleicht anmutende, teilweise aquarellierte Zeichnungen, in denen sie Blei- und Farbstifte – auf dem Papier zu bewegen scheint. Linie, Form und Farbe gehen hier eine Symbiose ein, der bisweilen etwas durchaus Tänzerisches anhaftet. Darüber hinaus gibt es auch Versuche, in den dreidimensionalen Raum vorzudringen; die Tastobjekte gehören ebenso dazu wie skurril anmutende Objekte aus Drahtgeflecht und Naturmaterialien. Der Abenteuerspielplatz der Kunst lockt also weiter…
Heiligenberg, im Januar 2009
Monika Spiller, Kunsthistorikerin